Andreas Ernst, ehemalige NZZ-Aussenkorrespondent, sprach in seiner Maturrede über Max Frischs Balkanreise. Auf dieser fasste Frisch den Mut, auf sein Talent zu setzen und Schriftsteller zu werden.

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Matur, Max Frisch und der Balkan

«Sie alle haben, liebe Maturandinnen und Maturanden, mit Ihrem Abschluss eine grosse Leistung vollbracht und ein Kapitel in Ihrem Leben abgeschlossen. Jetzt beginnt für Sie alle ein Übergang und eine neue Etappe.» Mit diesem Satz richtete sich Andreas Ernst zum Schluss seiner Maturrede in der Kirche Neumünster an die 114 Maturand:innen, die diesen Sommer die KME abschlossen. Der promovierte Historiker und ehemalige Balkan-Aussenkorrespondent widmete seine Rede Max Frischs Beschreibungen seiner Balkanreise im Jahr 1935.

Der damals 21-Jährige flüchtete gewissermassen vor der Langeweile in seinem Germanistikstudium und dem Liebeskummer nach der Trennung von seiner ersten Freundin nach Südosteuropa, wo auch Andreas Ernst lange gelebt und für die Neue Zürcher Zeitung berichtet hatte. Frischs Reise führte ihn von Ungarn nach Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien und Griechenland bis nach Istanbul.

Seine Beschreibungen der Landschaften seien präzis und poetisch, sagte Andreas Ernst. Sobald es aber um die Menschen vor Ort gehe, bleibe er schematisch und in Klischees befangen. So beschreibt Frisch die Hände von Albanern, die im Kosovo an einer Brücke arbeiteten, als «adlerartige Pranken» und schrieb, deren Tun sei «weniger ein Arbeiten als ein Kämpfen».

«Der Balkan beginnt für Frisch dort, wo alles etwas primitiver wirkt und fremd.» Für ihn sei die Region «halb abendländisch, halb Orient» gewesen. Die Schilderungen veränderten sich in Griechenland, hier folgten sie nicht mehr dem gleichen Narrativ, hier flossen in die Schilderungen die Elemente seiner klassischen Bildung ein. In lobenden Worten beschrieb er beispielsweise die hellenische Gastfreundschaft.

«Denn die hellenische Gastfreundschaft ist im Westen bekannt und gilt als Kulturgut.» Der Wert seines Wissens war allerdings zwiespältig, wie Ernst darlegte. «Seine klassische Bildung nützt ihm wenig, wenn es darum geht, den Menschen und Dingen näher zu kommen. Sie hilft ihm vielmehr, statt negativer jetzt positive Klischees zu produzieren.»

«Es lohnt sich, aufzubrechen, wegzugehen, an anderen Orten zu leben und neue Menschen kennenzulernen.»

Frischs Balkanreise war also weniger ein Erkunden der Menschen vor Ort als eine Reise zu sich selbst, führte Ernst aus. Er habe sich vor allem mit der Sprache auseinandergesetzt und sich als Autor inszeniert. Mit Erfolg. Nachdem er wieder in die Schweiz zurückgekehrt war, schrieb er seinen ersten Roman «Jürg Reinhart, eine sommerliche Schicksalsfahrt».

«Frisch hat zwar nicht den Balkan entdeckt, aber neue Seiten an sich – und er hat den Mut gefasst, auf sein Talent zu setzen», sagte der Redner zum Schluss an die Adresse der Maturand:innen. «Es lohnt sich aufzubrechen, wegzugehen, an anderen Orten zu leben und neue Menschen kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen von Herzen: Gute Reise!»

Text:  Miguel Garcia
Bilder:  Roberto Huber, Nicole Sotzek