Das Freifach Theater hat eine lange Tradition an der KME. Die Leitung hat seit diesem Jahr der KME-Absolvent und Theaterschaffende Joel Franz, der hier über den Weg zu seinem ersten Stück berichtet.
Das Freifach Theater hat sich in der KME-Spielzeit 2021/2022 mit dem Thema «Form» beschäftigt. Inwiefern ist Form und sind Formen wirkungsvoll in unserem Leben? Diese abstrakte Frage beschäftigte uns in diversen Diskussionen, Improvisationen, szenischen Versuchen, Gesprächen und Proben. Wir haben Passagen aus Robert Pfallers «Die blitzenden Waffen – über die Macht der Form» gelesen und uns den Film «Le charme discret de la bourgeoisie» von Luis Buñuel angeschaut.
Aber angefangen hat alles viel kleiner. Angefangen hat es mit der Stille. Die unangenehme Stille, die wir alle kennen in Gesprächen, die plötzlich in einer Sackgasse enden oder in einen luftleeren Raum fallen. Wir improvisierten verschiedene Stille-Situationen. Dabei nahmen wir auch immer wieder die Zuschauerinnen-Perspektive ein: Was fällt uns auf, was finden wir lustig, was lässt uns weiterdenken und wo haben wir ein Dejà-vu?
«Angefangen hat es mit der Stille.»
Bald war klar: es gibt nicht nur die unangenehme Stille, es gibt auch eine angenehme Stille. Was unterscheidet die beiden? Liegt es an Formen, in diesem Fall Umgangsformen, welche die Stille angenehm oder unangenehm machen? Und wenn ja, wo wirken diese Umgangsformen sonst noch? Ist Small-Talk unangenehm oder nicht? Ist das individuell? Oder situationsabhängig? Neben all den Formzwängen wollten wir aber auch herausfinden, wo Form befreiend sein kann, wo Form ohne Inhalt vielleicht plötzlich erstrebenswerter ist als Inhalt ohne Form.
Unsere Arbeit oszillierte zwischen solchen abstrakten Gedankengängen und ganz konkreten, banalen Alltagssituationen. Entsprechend kristallisierte sich das Bühnenbild heraus: Zwei ausrangierte Zugsitzgruppen der Deutschen Bahn. Und auf diesen Zugsitzen spielte sich die ganze Handlung ab. Begonnen bei der Stille, hin zum lockeren Smalltalk, der irgendwann penetrant laut wird. Und in der Lautstärke, die zum Wettkampf zwischen Individuen wird, zeigen sich die wahren Gesichter.
«Bitte beachten Sie, dass im öffentlichen Verkehr eine Maskenpflicht gilt!»
Eigentlich wollen alle Passagier:innen einfach wahrgenommen und gesehen werden, verstecken sich aber die ganze Zeit hinter ihren Formalitäten, sodass niemand irgendetwas von irgendwem sieht. Aber dort, wo die Verzweiflung liegt, liegt auch die Hoffnung: In der Form. Denn Formen können neu entdeckt, erfunden und erschaffen werden. So verschieben sich die Interaktionen im Zug plötzlich vom Smalltalk zur Erkundung der Muster auf dem Polster der Zugsitze.
Die unangenehme Stille wird angenehm, wenn sie mit Schattenspielen gefüllt wird. Und sogar die Zugdurchsage meint: Gehen sie spielerisch statt verkrampft mit Formen um. Setzen Sie eine Maske auf und spielen sie eine Rolle. Bitte beachten Sie, dass im öffentlichen Verkehr eine Maskenpflicht gilt! Und plötzlich legt sich eine angenehme Stille über den Zug und das ganze nächtliche Gleisfeld.